"Ansprache anlässlich der Vernissage "Come Albero" von Angelo Garoglio", by Marianne Mittelholzer Leuenberger
November 2, 2001
Meine Damen und Herren
Hegel (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770 - 1831) hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass wir es in der Kunst "mit keinem bloss angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern mit einer Entfaltung der Wahrheit" zu tun haben. Ein Kunstwerk lässt sich nicht isoliert betrachten. Es muss immer in Zusammenhang mit der Welt gesehen werden. Angelo Garoglios Werke sind in der Tat nicht nur einfach schön, sondern vermögen, dass der Betrachter die Welt, das Leben plötzlich ganz anders wahr nimmt. Das vielfach Unsagbare interessiert ihn. Der Schwellenbereich. Die Schwelle bezeichnet den Grundbalken oder Querstein einer Tür, über den hinweg man das, wohin diese Tür führt, betritt oder verlässt. Die Schwelle ist also eine Marke zwischen einem Hier und einem Dort. Im erweiterten Sinne meint sie den Durchgang selber. Sie ist demnach Schranke und Verbindung zugleich. Diese Dialektik durchzieht das gesamte Werk Garoglios. Da wo die Pole zusammen im Widerstreit sind, nimmt er die Spur auf. Er operiert auf der Schnittstelle sozusagen. Es ist ein Übergangsbereich veranschaulicht zum Beispiel durch die Bruchstelle des Steins, die Abrissstelle des Papiers bei den Collagen oder die schraffierte Linie der Zeichnungen der Serie "Partizione" -Teilung. Angelo Garoglios Werke legen Zeugnis ab von diesen Reflexionen. "Come Albero" - wie der Baum, Ja genau, wie der Baum, der ja sowohl Lebensbaum wie auch Todesbaum sein kann. Der Baum ist ein Ursymbol, aber natürlich auch ein sehr vielfältiges und oft sogar ambivalentes und in sich widersprüchliches Symbol. Das Symbol des Lebens, des Menschen schlechthin. Der Mensch zwischen Himmel und Erde und sein immerwährender Versuch, die Harmonie zwischen diesen beiden Koordinaten seiner Existenz zu schaffen.
Angelo Garoglio braucht die Baummetapher zur Veranschaulichung der Gegensätze und ihrer Schnittstellen. Die Schnittstelle oder Schwelle als der Bereich wo die Pole verschmelzen. Der Ort der Harmonie. In der Arbeit "Parola dell' Albero" - das Wort Baum hat sich dieser Ort der Harmonie konkretisiert. Der Lebensbaum und der Todesbaum werden zum Weltenbaum. Nicht mehr "come albero" - wie ein Baum, es ist der Baum, der Urbaum, die Idee. Ein solches Bild entstehen nicht alle Tage. Im zweiten Raum sehen Sie einige Studien, die diesen Prozess, das Ringen der Gegensätze zeigen. In der Arbeit "Come Albero" finden wir diesen Wiederstreit in allen erdenklichen Variationen. In den Zeichnungen der Serie "Partizione" - Teilung wird jeder Poi aufgeteilt und die Schnittstellen werden ausgelotet. "Parola dell'Albero" aber ist Synthese, Übereinstimmung.
Auf der Schwelle verweilt niemand lange. Sie ist nicht nur Schranke, sondern eben auch Durchgang - und schon stehen wir vor einer neuen Schwelle. Es wäre trügerisch zu denken, sie sei endgültig überschreitbar. Kunst tröstet darüber hinweg, indem sie diese Augenblicke der Harmonie festhält. Dafür danke ich Angelo Garoglio.
Wenn Sie tiefer in die Baumsymbolik eintauchen möchten, empfehle ich Silvia Studer-Frangis Vortrag am 9. Dezember um 11.00 Uhr hier in der Galene. Sie hat bei Max Lüthi, dem Altmeister der Märchenforschung studiert. Anhand von ausgewählten, internationalen Märchen und Legenden wird sie auf die Baumsymbolik eingehen. Silvia Studer-Frangi ist eine begnadete Erzählerin und nur schon deswegen ein Erlebnis.